Unser Projekt: No-go-Areas erforschen
Interdisziplinäres Lehr-/Forschungsprojekt von Stephanie Heimgartner (Komparatistik), Hilde Hoffmann (Medienwissenschaft), Olena Petrenko (Geschichte), Ruhr-Universität Bochum
Forschungsfrage
Als No-go-Areas werden Orte bezeichnet, an die man sich nicht gefahrlos oder unbedroht begeben kann. Es sind Areale, die erst durch menschliches Handeln für Menschen unbetretbar geworden sind; Orte mit Geschichte, die durchkreuzt sind von sozialen Konfliktlinien und Verwerfungen, an denen sich gesellschaftliche Aushandlungsprozesse oft gewaltvoll kristallisieren.
Der Begriff „No-go-Area“ als Grenze oder Marker ist gegenwärtig Element der diskursiven Auseinandersetzung auf unterschiedlichen Ebenen. Ursprünglich im Militärischen als eine Bezeichnung für Sperrgebiete verwendet, werden heute verschiedene Orte und Phänomene mit diesem Begriff in Verbindung gebracht: u.a. der „Todesstreifen” entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, das urbane Ghetto, das Lager, die nuklear verseuchte Zone oder auch das Mittelmeer. Mit dem Begriff werden Grenzen, Aus- und Einschlüsse, Gewalt, Kriminalität, transnationale Mobilität, Otherness und Marginalität verhandelt und produziert.
Wir wählen ihn, weil er in seiner kurzen Geschichte im Deutschen bereits einem bedeutsamen semantischen Wandel ausgesetzt war: Anfangs wurde der Begriff im linken Meinungsspektrum benutzt, um Stadtbezirke zu problematisieren, die Angehörige von Minderheiten nur unter Gefahr betreten konnten, weil dort rassistische Gewalt zu befürchten war. Mittlerweile wird er fast ausschließlich in Publikationen der extremen Rechten verwendet, um die Diversität von Stadtteilen oder ihre Bewohner*innen zu stigmatisieren und um zugleich „national befreite Zonen“ auszurufen, in denen sich als anders Markierte nicht gefahrlos öffentlich bewegen können.
Wir wollen damit einerseits Sensibilität für die unvermittelte Prägung, den raschen Bedeutungswandel und die ideologische Besetzbarkeit neuer Begriffe vor allem in der jüngsten Vergangenheit wecken, andererseits untersuchen, ob der Begriff der „No-go-Area“ trotz seiner rezenten Verwendungsgeschichte noch für den wissenschaftlichen Diskurs (zurück-)gewonnen und nutzbar gemacht werden kann. Darüber hinaus wollten wir – im Sinne einer vertieften Reflexion raumtheoretischer und phänomenologisch-epistemologischer Modelle wie dem des „embodiment“ – im Rahmen einer Exkursion nach Duisburg-Marxloh zumindest einen Bereich begehen, der vielfach als No-go-Area bezeichnet wird. Das hat Corona leider unmöglich gemacht, stattdessen wurde der Campus unserer Universität selbst zu einem nur unter Einhaltung von Auflagen betretbaren Raum.
Das Ruhrgebiet, eine Industrieregion, die lange als Ausgangspunkt der Modernisierung angesehen wurde, eignet sich besonders für eine Erforschung von No-go-Areas. Das schnelle Bevölkerungswachstum und die rasche Entwicklung der Infrastruktur machten diese Region zum urbanen Ballungsraum. Am Ende des 20. Jahrhunderts förderte die De-Industrialisierung der Region zahlreiche soziale und wirtschaftliche Spannungen, die postindustrielle Orte zu verschlossenen, negativ konnotierten und oft sogar unbetretbaren Orten machten. Viele Stadtviertel (z.B. Duisburg-Marxloh) werden als „Räume der Gewalt“ bezeichnet und als unbetretbare Orte eingestuft. In augenfälligen medialen Diskursivierungen wird die Geschichte von Orten innerhalb der Region und ihrer Menschen ignoriert und sie werden zu „Nicht-Orten“ (Marc Augé) erklärt.
In der Veranstaltung sollten Vorstellungen von Zeit und Identität und damit verbundenen (vorrangig imaginären) Räumen in den Blick genommen werden. Ein besonderes Augenmerk wurde auf Raumtheorien (Augé, Bourdieu, Certeau, Foucault, Lefebvre) gelenkt. Die fachübergreifende Betrachtung ermöglichte neue Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand.
Leitfragen waren dabei: Wie wird das Narrativ der „unbetretbaren Räume“erzählt und vermittelt und wogegen wird es abgegrenzt? Welche Umdeutungen finden dabei statt? In welchem Verhältnis stehen Grenze und Grenzräume mit No-go-Areas? Welche Begriffe, Themen und Felder werden aktuell mit No-go-Areas in Verbindung gebracht? In welcher Form ist die Präsenz bzw. Ankündigung der Existenz von „Gefahrenzonen“ im Verhältnis zur je politischen Lage zu verstehen und welche Veränderungen sind in diesem Diskurs festzustellen? Welche „Practices of Seeing“ (Homi K. Bhabha) dieser Räume wurden konventionalisiert? Welche Strategien des „Othering“ (Gayatri Chakravorty Spivak) werden erkennbar? Welche medialen Praktiken werden beobachtbar und haben welche Effekte? Welche medialen Eigeninteressen sind im Spiel, wenn es um No-go-Areas geht
Historischer Diskurs
Der Raum ist und bleibt eine der zentralen Dimensionen der Gesellschaft und des menschlichen Handelns. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die historische Raumanalyse sich nicht auf die physische oder geographische Ebene begrenzt, sondern Praktiken der historischen Akteur*innen sowie Raumvorstellungen und Raumpräsentationen in den Fokus stellt. Dabei macht die Markierung als „No-go-Area“ gesellschaftliche Grundmuster und Interaktionen sichtbar und bietet einen tiefen Einblick in die unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen einzelner Gesellschaften.
Literarischer Diskurs
International lassen neuere Erzähltexte wieder ein erstarkendes Interesse an mimetisch-realistischer Formgebung und ethischem Anspruch erkennen. Dabei stehen realistische Darstellungen sozialen Wandels (z.B. von Migration und deren Begleitumständen) dystopischen Visionen gegenüber, die z.B. den Klimawandel, interkulturelle Auseinandersetzungen oder mit neuen Technologien verbundene Fragen thematisieren. Oft werden Konfliktsituationen dabei auf erzählerischer Ebene mit Hilfe räumlicher Arrangements dargestellt. Dabei stellen literarische Texte regelmäßig Räume der Ausgrenzung und Verwerfung dar sowie solche, die nicht betretbar sind oder als nicht betretbar gelten.
Mediendiskurs
No-go-Areas werden immer auch medial produziert. Ihre Ausformung und die Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen, stehen in Relation zu medialen Kontexten, zu ihren Logiken und Interessen. No-go-Areas gestalten sich in der Regel über Differenzkategorien wie race, class und gender. Bei der Herstellung von Differenz, bei Ein- und Ausschließungen und bei der Modulierung imaginärer und realer Räume haben Medien zentralen Anteil. Besonders Film und audiovisuelle Praktiken haben eine lange Tradition der Visualisierung, der Reproduktion sowie der kritischen Befragung von Grenzregimes, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Längst informieren audiovisuelle Umgebungen die Bewegungen innerhalb und außerhalb dieser Räume genauso wie sie diese Räume formen.
Methode und Ziele
Im Vordergrund unseres Projekts stand die Idee des Forschenden Lernens. Am Anfang stand eine intensive historische und theoretische Einführung. Anschließend wurde die eigenverantwortlich in Gruppen organisierte Arbeit durch den kontinuierlichen Austausch mit den Dozierenden und den Input durch eingeladene Expert*innen (Dr. Glaucia Peres da Silva, Dr. Brigitta Kuster, Dr. Vassilis Tsianos) begleitet.
Im Laufe der Lehrveranstaltung fanden sich fünf Arbeitsgruppen. Die erste Gruppe befasste sich mit dem Bedeutungswandel des Begriffs „No-go-Area“. Dabei stand der rezente, größtenteils gelungene Versuch der Umsemantisierung durch rechtsextreme Bewegungen im Mittelpunkt. Im Zentrum des Projekts der zweiten Gruppe stand die Geschichte Harlems unter besonderer Berücksichtigung der 1920-30er Jahre. Hierbei wurde Harlem mit Bezug auf das Heterotopie-Konzept von Michel Foucault als Raum der Ausschließung betrachtet.
Die dritte Gruppe näherte sich dem Thema des Wissenstransfers zwischen Ost und West unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe. Das Projekt führte in die Arbeit der deutschen Tschernobyl-Hilfsvereine als ein und analysierte deren Transmitter-Position anhand von Interview mit historischen Akteur*innen.
Die TeilnehmerInnen der vierten Gruppe untersuchten den medialen sowie den verwalterischen Umgang mit „Schrottimmobilien“ in dem von den Medien als „No-go-Area“ bezeichneten Viertel Duisburg-Marxloh.
Ins Blickfeld der fünften Gruppe rückte die Plausibilierung des zweiten Lockdowns während der gegenwärtigen Pandemie, die mit Hilfe einer Interdiskursanalyse beforscht wurde.
Die Ergebnisse ihrer Arbeit stellten die Studierenden in seminarinternen Präsentationen vor und brachten sie in die vorliegende Website ein.
Wir bedanken uns bei allen Teilnehmer*innen und Vortragenden
sowie bei der Ruhr-Universität Bochum für die Förderung als interLECTURE-Projekt.